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  • Psychosen

Die blaue Broschüre

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Die Broschüre ist für 1 Euro als Print-Broschüre in deutscher und in englischer Sprache bei uns erhältlich.

Siehe auch in der Wissensdatenbank Wikipedia zu den Suchbegriffen "Psychische Erkrankung", "Psychose", "Schizophrenie".


Psychosen, ein zutiefst menschliches Problem

Menschen müssen im Unterschied zu anderen Lebewesen um ihr Selbstverständnis ringen. Es gehört zu unseren Möglichkeiten, an uns zu zweifeln, andere(s) zu bezweifeln und dabei auch zu verzweifeln, über uns hinaus zu denken und uns dabei zu verlieren.

  • Wer längere Zeit verzweifelt ist, ohne Halt und Trost zu finden, wer seine Gefühle nicht mehr mitteilen kann und sie nicht mehr aushält, kann depressiv oder, wenn er die Flucht nach vorn ergreift, manisch werden.
  • Wer sich selbst verliert, verliert auch seine Begrenzung und Abgrenzung zu anderen Menschen.

Entsprechend verändert sich die Art, Dinge und Personen um sich herum wahrzunehmen. Die Gedanken werden sprunghaft, probierend und weniger logisch.

Dauert dieser Zustand an, sprechen wir von Psychosen. Wer psychotisch wird, ist also kein "Wesen vom anderen Stern", reagiert nicht verhaltensuntypisch, sondern zutiefst menschlich.

Eine Psychose ist eine tiefe existenzielle Krise, eine meist alle Lebensbereiche umfassende Verunsicherung. Subjektiv ist nichts mehr wie es war, auch wenn sich aus der Sicht von anderen nicht viel verändert hat. Vorrangig können Stimmung, Lebensgefühl und Antrieb wesentlich verändert sein.  Dann spricht die Psychiatrie von "affektiven Psychosen". Oder es können sich vorrangig die Wahrnehmungen verselbständigen, das Denken sprunghaft und die Sprache unverständlich werden. Das nennen die Psychiater dann "Schizophrenie". Präziser und weniger belastend wäre "Kognitive Psychose". Letztlich hängen Wahrnehmung und Stimmung (in beide Richtungen) zusammen. Jede Psychose ist anders, so wie auch jeder Traum anders ist. Und jeder Mensch ist individuell zu behandeln, gerade Psychoseerfahrene spüren sehr genau, ob sie als Person angesehen und mit Respekt behandelt werden.


Wesentliche Veränderungen von Stimmung und Energie (Affektive Psychosen)

Alles erscheint grau in grau, oder man sieht und fühlt sich selbst auf rosa Wolken schwebend.

Der Energiehaushalt ist eingefroren oder läuft auf Hochtouren, das Selbstbewusstsein ist auf ein Nichts zusammen geschrumpft oder allumfassend grenzenlos. Man traut sich gar nichts mehr, oder alles. Beide Zustände können alleine (als "unipolare" Störung) oder abwechselnd als ("bipolare" Störung) auftreten. Beide Zustände wirken gegensätzlich und sind doch zwei Seiten derselben Medaille. Sie haben einen Bezug zu dem, was Jeder als Stimmungsphasen aus dem Alltag kennt und sind doch in ihrer besonderen Qualität davon deutlich zu unterscheiden:

  • Depression ist nicht gleich Trauer. Wer wirklich trauert, und dabei Halt findet, braucht nicht depressiv zu werden. Wer depressiv wird, ist verzweifelt traurig. Er trauert und versucht zugleich, der Trauer zu entkommen. Er flieht in eine Leere, in eine Distanz von sich selbst, die freilich die eigenen Verzweiflung um so mehr nährt, je größer der Abstand wird.
  • Manie ist nicht gleich Glück. Wer wirklich glücklich ist, wem das Leben glückt, der braucht nicht manisch zu werden. Wer manisch wird, ist verzweifelt glücklich. Er sucht das Glück, wo er es nie finden wird – weit weg von sich selbst. Die eigene Anstrengung geht dabei so sehr über seine Kräfte, dass die anfängliche Euphorie bald der Angst weicht und die Verzweiflung immer größer wird.

Beide Zustände können sich geradezu wechselseitig bedingen: Wer eine Manie voll auskostet, kann sich und seine Angehörigen dabei in eine so umfassende Erschöpfung bringen, dass der Absturz in die Depression wie von selbst nachfolgt. Umgekehrt kann eine Depression so tief und uferlos empfunden werden, dass als Weg nach draußen nur die Flucht nach vorne bleibt.

Gemeinsam ist beiden Zuständen, dass meistens der Schlaf deutlich gestört ist, mit dem Unterschied, dass Schlaflosigkeit in der Depression als sehr quälend empfunden wird, während in der Manie das Schlafbedürfnis ohnehin erheblich reduziert ist.

Ebenfalls in beiden Phasen verändert ist das Zeitgefühl: In der Depression herrscht ein Gefühl von ewigem Stillstand; die aktuelle Not hat kein Ende. Gute Erfahrungen aus früherer Zeit oder Hoffnungen auf die Zukunft sind unzugänglich. Oder die Zeit läuft einem davon, man fühlt sich gelähmt und gleichzeitig gehetzt. In der Manie scheint alles gleichzeitig möglich. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschmelzen so, dass eine realistische Selbsteinschätzung kaum noch gelingt.


Wesentliche Veränderung von Wahrnehmung und Denken (Kognitive Psychose/Schizophrenie)

Im Unterschied zu affektiven Psychosen sind bei schizophrenen Psychosen vor allem die Wahrnehmungen, die Sprache und das Denken verändert. Man spricht deshalb auch von kognitiven Psychosen. Die Bezeichnung "schizophrene Psychose" ist historisch sehr belastet: In der Zeit des Nationalsozialismus wurden Menschen mit dieser Diagnose als lebensunwert betrachtet und entsprechend behandelt. Diese Verbrechen der damaligen Psychiatrie beeinflussen das öffentliche Bild bis heute.

In einer eher kognitiven psychotischen Krise können Geräusche oder Stimmen zu hören, Bilder zu sehen oder seltener Berührungen auf der Haut zu spüren sein ohne dass es dafür einen entsprechenden Reiz gibt. Das bedeutet nicht, dass die Sinnesorgane beschädigt sind. Vielmehr trägt das Gehirn, das alle Wahrnehmungen transportiert, vernetzt und deutet, die Verantwortung für diese Eigendynamik der Sinne. Es übersetzt innere Impulse (unbewusste Erinnerungen, Konflikte, Gefühle, Hoffnungen und Befürchtungen) in Außenreize. Manchmal ist auch das Gefühl für die ganze Welt verändert, sodass ungeahnte Sinnzusammenhänge zu spüren sind.

Diese Eigendynamik entsteht vor allem dann:

  • wenn von außen entweder zu wenig Reize ankommen (z.B. aufgrund von sozialer Isolation) oder zu viele Informationen auf einmal das Fassungsvermögen sprengen
  • wenn in Krisenzeiten aus dem Unbewussten zu viele Eindrücke auf einmal ins Bewusstsein drängen, sodass unsere Verdrängungs- und Verarbeitungsmöglichkeiten (Bedenken, Vergessen, Träumen) nicht ausreichen.

Die Gedanken sind weniger logisch und "folgerichtig", eher sprunghaft, assoziativ und kreativ. Die Sprache ist weniger selbstverständlich, sondern entweder eingeschränkt (Wortwiederholungen, Kreisen um bestimmte Begriffe) oder erweitert (originelle Neuschöpfungen).

Selbstverständlich hängen Stimmung und Wahrnehmung zusammen, beeinflussen sich affektive und kognitive Veränderungen gegenseitig: Wer depressiv ist, sieht schwarz, wer hoch gestimmt ist, trägt eine "rosarote Brille". Affektive Veränderungen können Auslöser von schizophrenen Psychosen sein oder umgekehrt deren Folge.


Umgang mit Psychosen, Respekt und umfassende Wahrnehmung

Psychosen gehören zum menschlichen Repertoire, verweisen auf die Brüchigkeit unseres Daseins, sind "allzumenschlich". Doch das darf nicht bedeuten, sie zu verharmlosen. Die Spannweite der Möglichkeiten, wie Menschen sein und fühlen können, ist "irrsinnig" groß. Auch das unterscheidet uns von anderen Lebewesen.

  • Eine psychotische Depression kann bis zu einem Zustand tiefer Lähmung und bis zur Selbsttötung führen (wobei das Eine gleichzeitig vor dem Anderen schützt).
  • Eine Manie kann große Verzweiflung und Scham hinterlassen und lange gewachsenen soziale Bindungen tief verstören.
  • Eine kognitive/ schizophrene Psychose kann in eine tiefe nachhaltige Verwirrung führen und eine große Orientierungslosigkeit bewirken bzw. sie verdeutlichen.

Wenn Menschen in eine  tiefe existenzielle  Krise geraten, sind alle Ebenen des Lebens berührt. Seele, Körper und soziale Situation sind so eng verflochten, dass es oftmals müßig erscheint, Ursachen und Folgen voneinander zu trennen. Zugleich kann es bei einer Psychose auf allen drei Ebenen zu einer gewissen Eigendynamik kommen:

  • Das Individuum verändert in seiner Psychose seinen Bewußtseinszustand ohne Drogen, um einer Belastung, Krise, Überforderung vorübergehend zu entkommen, findet dann aber unter Umständen nicht ohne Weiteres in die Realität zurück.
  • Das familiäre und soziale System wird möglicherweise in einen Strudel der Verunsicherung hineingezogen. So dass es, um weiter hilfreich zu sein, der Unterstützung bedarf.
  • Der Körper, vor allem der Hirnstoffwechsel, reagiert auf die psychische Belastung, macht dabei aber unter Umständen für neuen Stress noch empfindlicher.

Hilfe muss alle drei Ebenen beachten, muss Psycho-, Sozio- und Pharmakotherapie verbinden. Unser Hilfesystem ist jedoch oft einseitig biologisch ausgerichtet: Medikamente werden nahezu automatisch gegeben, eine langfristige tragfähige (psycho-)therapeutische Bindung ist keineswegs selbstverständlich. Die Familien werden allein gelassen. Ein der Situation angemessenes Psychoseverständnis bleibt vielfach unberücksichtigt.

Gleichzeitig formuliert unsere Kultur einen unbarmherzigen Anspruch an Leistung, Jugend und Schönheit. Gefühle werden in Talkshows entwertet. Reizüberflutung wird zum Massenphänomen. Persönliche und familiäre Dramen können nicht mehr angemessen eingeordnet werden. Und gesellschaftliche Instanzen, die Orientierung bieten, sind kaum noch in Sicht. In dieser Situation sind Psychiater, die ausschließlich pathologisch denken und die Psychose ausschließlich als Störung der Transmitter betrachten, keine gute Hilfe. Einsamkeit kann in Verzweiflung umschlagen und im Extremfall sogar in den Tod führen.